Ein Zeitreisender mit Garten

Es geht mir seit Tagen eine Sache nicht aus dem Kopf. Meine Mitmenschen reagieren sehr unterschiedlich auf meine Fragen dazu und die Installation, eines mir bekannten Künstlers, liegt noch immer von der Welt unbeachtet im Wald.

Die Installation ist eine Eichel neben dem Weg, den ich meist Mittags mit dem Hund gehe. Sie liegt neben morschen Ästen und altem Laub aus dem letzten Herbst. Der Künstler heißt Helmuth. Seien Nachnamen kenne ich nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob er meinen Namen kennt, aber wir sprechen oft einige Sätze miteinander.

Bei einem solchen Gespräch erzählte er mir von seinem Projekt, das nun als Installation am Wegesrand liegt. Sein Thema war die Frage:“ Hat die Vergangenheit eine Zukunft?“ Und wie kann man diese Fragestellung begreifbar umsetzten.

Da stand ich nun, schaute in seinen Garten, sah eine Schubkarre ohne Rad und dachte:“ Noch was, was ein Rad ab hat!“

Gesagt hab ich etwas anderes:“ Da hab ich mal einen Film gesehen, Zurück in die Zukunft. Sehr spannend, aber schon älter.“ Dabei beließ ich es, verabschiedete mich und ging mit dem Hund weiter.

Trotzdem dachte ich weiter.

Linear betrachtet, kann man einen Punkt als Gegenwart betrachten. Ein fast befreundeter Autor erklärte mir, das die Gegenwart bei uns Menschen ca. drei Sekunden dauert. Das sei auch wissenschaftlich erwiesen.

Alles nach links ist dann die Vergangenheit und alles nach rechts die Zukunft. Die Gegenwart bewegt sich Richtung Zukunft und lässt Vergangenes zurück. So könnte man sagen, das die Gegenwart die Vergangenheit der Zukunft ist, mit drei Sekunden Zeitverzögerung.

Umgekehrt müsste die Gegenwart die Zukunft der Vergangenheit sein.

Nur was ist ohne Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft?

Kann man beides mischen?

Vergangenheit plus Zukunft ist gleich VerKunft? So wie Erdbeeren und Milch, Erdbeermilch ergeben?

Solche Gedanken denken sich bei mir ganz von alleine. Ob es so ist oder nicht, erscheint mir nicht sehr wichtig. So vergehen Tage, an denen ich so was nicht denke. Mein Hund heißt übrigens Yusan, das heißt auf japanisch dreizehn. Ein Pudel.

Dann aber treffe ich Helmuth wieder und er erzählte mir von seinem Onkel, der bei der Reichsbahn gearbeitet hatte. Der pflegte bei Familienfeiern und nach einigen Herrengedecken gerne zu philosophieren.

Besonders die Aussage:“ Die Gegenwart ist nur ein Bahnhof, an dem wir uns treffen, auf der Reise vom Anfang zum Ende!“ Das macht aus uns Zeitreisende. Sagt Helmuth.

Unvergessen dann der mahnende Zeigefinger und die Tante, die versuchte ihn zum gehen zu bewegen, bevor er anfing schmutzige Lieder zu singen.

Der andere Onkel war U Boot Kapitän, der kommt aber in dieser Geschichte nicht vor.

Bis hier hin hatte die Schubkarre immer noch kein Rad und das Kunstprojekt war noch nicht rund. Das Stichwort war rund! Dieter stürmte aus der Gartenpforte und sagte:“Die Lösung ist rund! Die Welt ist auch keine Scheibe.“

„Wenn die Gegenwart ein Punkt auf einem Kreis ist und die Vergangenheit nach links und die Zukunft nach rechts zeigt, dann treffen sich beide! Auf der anderen Seite. Auch wenn die Gegenwart als Punkt von drei Sekunden weiterläuft, sollte immer gegenüber, im gleichen Abstand, ein Treffpunkt von Vergangenheit und Zukunft sein. Das ist die Minus-Gegenwart.“ Sagt Helmuth. „Mit minus drei Sekunden.“

Ich nahm das erst mal so mit. Der Hund wollte weiter.

Später versuchte mein Hirn Helmuths neuen Erkenntnisse einzuordnen. Schon in der Schule konnte ich mir keine Minus-Kirschen vorstellen. Sieben Kirschen minus 2 Kirschen sind 5 Kirschen. Nur wie sahen die Minus-Kirschen aus?

Welcher Gegenwartspunkt auf dem Kreis war nun die Minus-Gegenwart, wenn beide Punkte sich drehten?

Anders als das lineare Model, mit einem Treffpunkt in der Gegenwart und einer unendlichen Ausdehnung von Vergangenheit nach links und Zukunft nach rechts, ist das Kreismodell begrenzt, wie die Umlaufbahn eines Satelliten um die Erde. Mit der zweite Gegenwart, also der Minus-Gegenwart hatte ich noch keine Erfahrungen gemacht. Dazu wollte ich Helmuth noch mal fragen.

Die Antwort bekam ich als Helmuth die Eichel neben den Weg legte. Er wartete drei Sekunden und sprach:“ Die Eichel ist nun aus der Gegenwart in die Vergangenheit geschritten und trägt die Hoffnung in sich, in der Zukunft ein Baum zu werden!“

Soweit konnte ich folgen.“Aber was ist mit der Minus-Gegenwart.“ fragte ich. „ Das ist ja das Geniale, der Trick. Wir denken immer, wir sehen einen schwarz/weiß Film, dabei ist der Film in der Minus-Gegenwart weiß/schwarz!“ War seine Antwort.

Helmuth war glücklich, streichelte meinen Hund und lachte. Er machte Fotos und ging nach Hause.

Wochen später war keine Eichel mehr am Weg zu finden. Die Hoffnung in der Zukunft ein Baum zu werden, blieb Vergangenheit. Auch die Installation blieb unbekannt, weil Helmuth keinen Film in den Apparat eingelegt hatte.

Ich esse in letzter Zeit gerne Mohnkuchen und Helmuth erzählt mir über neue Projekte. Ich glaube er schreibt an einem Buch. Schwarz auf weiß, oder doch mit weißer Tinte auf weißem Papier. Hauptsache es geht ihm gut. Der Hund braucht jetzt Fressen.

Hamburger Hafen um 1973. Dias aus dem Nachlass